Schnee

"Dieser zugeschneite Wald ist wirklich idyllisch!" Meint Elena, während sie einen Schneeball formt. Inzwischen sind die beiden Turteltäubchen schon eine halbe Stunde über die weissen Spazierwege im Eiben-Fichten-Wald geschlendert. Dabei haben sie einander erzählt, was ihre Hobbys, Lieblingssongs und Zukunftsziele sind. Ihre Handynummern haben sie auch schon ausgetauscht. Nico hat erfahren, dass Elena ebenfalls Klavier spielt. Sie tanze Ballett und hat so wie auch Nico die Matura schon bald hinter sich. Polizistin wolle sie werden. "Polizistin? Bist du dafür nicht überqualifiziert?" - "Ach quatsch! Und es ist doch sowieso nicht schlecht wenn man noch die Matura als Ass im Ärmel hat." Nico gibt ihr recht.
"Du machst also Karate?! Dann kannst du bestimmt einem Schneeball ausweichen!" Sie holt mit dem Schneeball aus, den sie schon seit einer halben Stunde sorgfältig kugelrund geformt hat, und wirft aus einem Meter Distanz. Nico duckt sich im richtigen Moment. Nico lacht: "Ja das kann ich!" Nico hört etwas über seinen Kopf schwirren.
"Au!" Als Nico wieder aufsieht, macht Elena einen schmerzvollen Gesichtsausdruck. Sie hat beide ihre, in rote Handschuhe eingepackte Hände an ihrem Hals. Plötzlich beginnt sie zu torkeln. "Was ist los?!", fragt Nico beängstigt. Sie antwortet nicht. Nico kann Elena noch ganz knapp auffangen, als sie zusammensackt. Plötzlich schwirrt etwas kleines blitzschnell zwischen Elenas Handschuhen hindurch und verschwindet sofort in der Schneelandschaft. "Oh shit, was war denn das? War das eine Biene? Aber es ist doch Winter! Hey Elena?! Was hast du? Bist du allergisch auf Stiche? Elena?!" Elena liegt immer noch unbeweglich und mit geschlossenen Augen in Nicos Armen. Langsam bekommt Nico ein mulmiges Gefühl. Er streift hastig seine dicken Handschuhe ab und nimmt Elenas Hände von ihrem Hals weg. Mit zwei fingern berührt er ihn. Nico kann ihren schnellen Puls fühlen. Er denkt: "Ist sie ohnmächtig? Was soll ich jetzt tun?!" Nico fällt etwas ein: "Ah, natürlich schnell kontrollieren, ob sie noch atmet!" Er hält sein Ohr ganz nah an ihre Nase. Ja sie atmet noch. Nico sucht auf ihrem Hals Anzeichen eines Insektenstiches. Zuerst kann er nichts erkennen. Doch dann entdeckt er einen kleinen Bluttropfen vorne am Hals. "Eigenartig, ein Insektenstich schwillt doch leicht an. Es sieht eher aus als hätte jemand Elena mit einer winzigen Spritze in den Hals gepiekst." Nico hebt seinen Kopf und schaut sich hastig um. Er sieht niemand. Keine alten Pärchen und keine Hundebesitzer. Nico wird sich bewusst, dass niemand anderes gesehen hat, was geschehen ist. Und er befürchtet, dass Elena sich nach der Ohnmacht nicht mehr daran erinnern könnte, von was sie vorhin gestochen wurde, falls sie überhaupt wieder aufwachen würde.
Er schaut wieder auf sein lebloses Date in seinen - auf seine Knien gestützten - Armen. "Was soll ich den jetzt tun?!" Nico hat noch nie gesehen, wie jemand in Ohnmacht fiel. "Irgendwie muss ich sie doch wecken können!" Er hat eine Idee. Nico nimmt mit einer Hand etwas Pulverschnee vom Wegrand, nach kurzem Zögern lässt er ihn auf Elenas Gesicht fallen. Doch Elena regt sich kein bisschen. Sofort wischt Nico den schmilzenden Schnee sorgfältig von ihrem Gesicht. "Verdammt!" Nico starrt verzweifelt in das nasse Gesicht von Elena. Er kontrolliert nochmals mindestens drei mal, ob sie atmet und ihr Herz schlägt. Ihr Atem ist ruhig und regelmässig, aber ihr Herz schlägt schneller als Achtelnoten in einem Präludium von Bach. Schon mindestens fünf Minuten ist Elena ohnmächtig. Nico überlegt schon, ob er sie zum Spital tragen muss. "Aber das ist doch viel zu weit! Doch ich kann sie auch nicht einfach hier liegen lassen und Hilfe holen! Wieso hat es genau jetzt keine Spaziergänger wenn man sie dringend braucht?!" Nico ruft um Hilfe. Mehrmals, aber niemand scheint ihn hören zu können. 

Elena öffnet endlich wieder ihre Augen. Für einen kurzen Moment hat Nico das Gefühl einen Lichtschimmer durch ihre Augen wandern zu sehen. Nico meint erleichtert: "Hey, Elena. Bist du wieder wach?" Elena macht zuerst ein beängstigtes, dann ein empörtes Gesicht. "Lass mich los! Was hast du gemacht? Du Perversling!" Sie dreht sich schnell auf die Beine und steht auf. "Was? Nein, du bist einfach zusammengesackt und..." - "ICH HABE DICH GEFRAGT, WAS DU MIR ANGETAN HAST!" - "Das war nicht ich! Irgend ein Insekt hat dich am Hals gestochen und.. " - "Ein Insekt?! Ja klar, mitten im Winter kommt einfach so ein Insekt und sticht mir in den Hals! Lüge mich nicht an!" - "Ich lüge nicht! Ich habe es selbst nicht gesehen, weil ich mich ja gerade geduckt habe. Wie kann ich dir mit etwas in den Hals gepiekst haben und gleichzeitig deinem Schneeball ausweichen?!" - "Das weiss ich doch auch nicht." Elena ist verwirrt. Wieder etwas ruhiger sagt sie: "Aber was war das dann?" - "Das wüsste ich auch gerne." Es vergehen ein paar Sekunden ohne das einer von Beiden etwas sagt. Dann meint Elena: "Wie lange war ich..." - "Etwa 10 Minuten glaube ich." - "Wirklich? ... Ok. Ähm ich muss dann mal nach Hause. Vielleicht sehen wir uns ein anderes mal wieder." Nico sieht, wie zwei junge Eltern mit ihren beiden kleinen Kindern auf dem Spazierweg in ihre Richtung kommen. Nico denkt: "Vielleicht ist es doch besser, dass Elena aufgewacht ist, bevor diese Familie uns sehen konnte." Elena will sich auf den Weg machen. " Zur Busstation geht es aber in diese Richtung." Nico zeigt in die Richtung, von wo sie gekommen sind. Er fügt pragmatisch hinzu: "Aber gehen wir doch noch ein Stück weiter auf diesem Wanderweg. Dann kommen wir in 500 Metern zur nächsten Busstation. Es ist doch so schönes Wetter und es hat so viel..." - "Schnee? Ja, ja ich weiss. Aber ich muss jetzt wirklich gehen. Von hier kann ich zu Fuss nachhause. ... Was ist los? Wieso starrst du so auf meine Hände?!"
Nicht nur Nico sondern auch der kleinere der beiden Jungen sieht mit offenem Mund wie Elenas Handschuhe zu Boden fallen gefolgt von Pulverschnee, der unaufhörlich aus den beiden Jackenärmel zu Boden rieselt. Nein nicht nur aus den Jackenärmel. Nico sieht genauer hin und ihm scheint es, als würden die Schneeflocken auf der Haut ihrer Hände und Arme in rasantem Tempo wachsen, bevor sie sich lösen und zu Boden gleiten. Auch ihr langes Haar ziert sich plötzlich mit den schönsten Schneekristallen. Der ca. 5-Jährige Junge ist begeistert. Er beginnt sofort nach seiner Mutter zu rufen. Nico wendet seinen Blick sofort zum Jungen und dann mit entsetzen zu seinen Eltern. Nico macht schnell zwei Schritte auf Elena zu. Gerade als sie zu ihren eigenen Hände nach unten sieht, stösst sie einen Schrei aus. Nico konnte im letzten Moment noch seine Hand vor ihr Mund halten. Unterdessen ist der kleine Junge mit der grossen roten Mütze auf dem Kopf zu seinen Eltern gelaufen. Nervös flüstert Nico zu Elena: "Stop! Halte es an! Elena, Stop!"
Während der, gut in Winterkleider eingepackte mollige Junge an der Jacke seiner Mutter zieht, schreit er: "Mama, Mama! Schau mal da, eine Eiskönigin!" - "Was ist Schatz? Wo?" Beide Eltern drehen sich um. Nico versteht nicht was mit Elena los ist. Jetzt steht sie neben ihm und schaut völlig geschockt zu der Familie. Ihr Haar ist immer noch schneeweiss, aber es rieselt kein Pulverschnee mehr von ihren Händen. Elenas mysteriöse Schneeproduktion hat zum Glück sofort angehalten, als Nico zu ihr "Stop!" gesagt hat. 
Der Vater ist belustigt: "Eine Eiskönigin?!" und die Mutter sagt zu ihrem kleineren Kind: "Komm Balduin, lass das junge Pärchen in ruhe. Wollen wir auch eine Schneeballschlacht machen?" - "Jaaa!", freut sich der ältere Sohn und bewirft den Vater gleich mit einem Schneeball. Der jüngere verschränkt aber seine kleinen Ärmchen und sagt zu seiner Mutter: "Nein! Mama frag du die schöne Eiskönigin, ob sie nochmal Schnee zaubern kann!" Nico gelingt es einen kühlen Kopf zu bewahren und nachdem der kleine Junge das gesagt hat, wirft er zwei Hände voll von dem Pulverschnee, der vorhin aus Elenas Ärmel gekommen ist, in die Luft, sodass Elena und er für einen Moment in einer glitzernden weissen Wolke verschwinden. Die Mutter muss lachen, doch der kleine macht ein böses Gesicht und sagt zu Nico: "Nein nicht so. Du bist keine Eiskönigin!" Die Mutter lächelt verlegen zu Nico und entschuldigt sich für ihr freches Kind. Dann nimmt sie den weinenden Balduin an die Hand. Die Familie spaziert weiter.
Elena blickt Nico kurz und intensiv in seine grünen Augen. Dann umarmt sie ihn plötzlich. "Geht es dir gut Elena?" Sie umarmt ihn noch fester und nach ein paar Sekunden fragt sie: "Was ist mit mir los? ... Nico, ich habe Angst." - " Hey, beruhige dich. Das ... " Elena fällt ihm panisch ins Wort: "Bitte geh nicht weg!" - "Nein, ich gehe nicht weg. Wieso soll ich denn weggehen?!" Dann fängt Elena in seinen Armen an zu schluchzen. "Das ist doch nicht schlimm ...", tröstet er sie und streichelt dabei ihren Rücken. "Du hattest vorhin nur einen kurzen Schock. Alles ist in Ordnung." - "Nein nichts ist in Ordnung. Wie kannst du nur so gelassen sein? Ich ..." - "Pssst!", macht Nico und schaut ihr dabei liebevoll in die Augen. Ihm geht durch den kühlen Kopf: "Ich muss sie jetzt irgend wie von diesem eigenartigen Geschehniss ablenken. Aber wie?!" Er streicht sanft mit seinem Daumen eine Träne unter ihren Augen weg. "Schliesse einfach deine Augen und denk an etwas schönes." Elena tut es. Nico wartet kurz, dann küsst er sie plötzlich.
Elena öffnet ihre Augen. Dann gibt sie ihm eine, nicht allzu starke Ohrfeige. "Hey!", wehrt sie sich in einem belustigten Tonfall. Nico muss schmunzeln und meint: "Ich habe gerade eine wunderschöne Eiskönigin geküsst!" Nico hat Elena wieder zum lachen gebracht: "Nico, das ist nicht lustig!" Elena sammelt immer noch schmunzelnd ihre Handschuhe vom schneebedeckten Waldweg auf. Nico zieht seine aus und hält sie der zitternden Elena entgegen: "Da, nimm meine Handschuhe. Deine sind ja immer noch voll mit Schnee." - "Danke." Er nimmt ihre Hand und sagt: "Komm mit." - "Wohin?" - "Du musst dich irgendwo aufwärmen. Ich weiss nicht, wie weit ist es bis zu dir nach Hause?" Elena antwortet: "Das ist weit weg. Aber du wohnst doch viel näher, nicht? ... Nein, aber was ist, wenn mir wieder so etwas passiert, wie vorhin?!" - "Stimmt du hast recht. ... Ah, weisst du noch, als ich dir vorhin erzählte, dass ich in der reformierten Kirche Friesenberg regelmässig auf der Orgel übe? Ich habe den Schlüssel immer noch in meinem Hosensack. Dort ist jetzt bestimmt niemand." - "In die Kirche? Nein, Nico was sollen wir dann dort..." Nico sagt nachdenklich: "Das wichtigste ist jetzt, dass du dich erst einmal etwas aufwärmst und dann müssen wir herausfinden was genau vorhin vorgefallen ist." Aber Elena meint: "Ich kann doch nicht einfach in die Kirche gehen und es dort schneien lassen!" - "Das tust du auch nicht. Komm jetzt, sonst erfrierst du noch hier draussen!" - "Ok, wenn du meinst." Elena knöpft ihre Winterjacke mit den Stahlknöpfen zu. Während sie sich auf den Weg machen sagt Nico: "In der Wärme können wir uns in Ruhe das Geschehene nochmals durch den Kopf gehen lassen."